Ursachen des gesellschaftlichen Unfriedens – Gibt es Hoffnung auf Besserung?

Dieser Text ist die stark gekürzte Fassung eines Vortrages, den Prof. Dr. med. Gerhard Ehninger am 15. September dieses Jahres beim 7. Hubertusburger Friedensgespräch gehalten hat. Die Veranstaltung stand unter dem Motto „Ertraget einander - Leben wir im (Un-) Frieden?“

 

In den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre war viel von der „christlich abendländischen Kultur“ die Rede. Auch wenn der Begriff mehr als unscharf ist und mehr Fragen aufwirft als beantwortet: Man kann sich ihm nicht nähern, ohne einen Blick in den zentralen Text dieses Kulturverständnisses zu werfen: Die Bibel.

Die Bibel ist voller Unfrieden. Besonders das Alte Testament. Es berichtet uns gleich zu Beginn von einer Mordrate, die selbst den brutalsten Mafiosi vor Scham erbleichen lassen würde. Nachdem Kain seinen Bruder Abel erschlug, ist - statistisch gesehen - ein Viertel der gesamten Weltbevölkerung einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. So viel Unfrieden war nie wieder.

Gewalt und Unfrieden allerorten. Besonders in Sodom und Gomorra. Aber war es nötig, gleich die ganze Stadt zu vernichten? War es nicht übertrieben, Lots Frau auf der Stelle zu töten, nur weil sie sich neugierig umgedreht hat? Muss nicht solche Gewalt, neue Gewalt und damit Unfrieden hervor bringen?

Machen wir einen Sprung zum britischen Philosophen Thomas Hobbes. Hobbes stellt seiner Staatstheorie das lateinische Sprichwort „Homo homini lupus“ voran. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Nicht zuletzt aus den Erfahrungen seiner Zeit (Hobbes lebte von 1588 bis 1679, einer Phase zahlreicher kriegerischer Konflikte in Europa), führte Hobbes zu seiner Analyse, dass der „Naturzustand“ des menschlichen Zusammenlebens ein egoistischer „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes) sei. Daher brauche es die staatliche Gewalt, um den inneren Frieden herzustellen.

Dass auch dem modernen Mensch eine starke Neigung zur Gewalttätigkeit innewohnt, zeigte in den sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts das sog. „Milgram Experiment“ gehört. Der US-Psychologe Stanley Milgram hatte damals einen Versuchsaufbau entwickelt, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen. Der Versuch bestand darin, dass ein „Lehrer“ – die eigentliche Versuchsperson – einem „Schüler“ (ein Schauspieler) bei Fehlern vermeintlich einen elektrischen Schlag versetzte. Ein Versuchsleiter (ebenso ein Schauspieler) gab dazu Anweisungen. Die Intensität des elektrischen Schlages sollte nach jedem Fehler erhöht werden. Diese Anordnung wurde in verschiedenen Variationen durchgeführt.

Die meisten Versuchspersonen orientieren sich in der vorgegeben Situation an den Anweisungen des Versuchsleiters. Und nicht an den Schmerzen ihrer Opfer. Die Veranlassung war am wirksamsten, wenn der Versuchsleiter anwesend war, und am wirkungslosesten, wenn die Instruktionen per Tonband oder Telefon erfolgten. Auch die Nähe zum „Schüler“ beeinflusste die Bereitschaft zum Abbruch des Versuches. So gingen ohne Rückmeldung der „Schüler“ praktisch alle Versuchspersonen bis zur höchsten Schockstufe, während beim direkten Kontakt nur noch 30 Prozent die Höchststufe erreichten.

Das Milgram-Experiment ist seit 1961 in vielfältigen Varianten und Konstellationen wiederholt worden. Zuletzt 2017 in Polen. Die statistischen Ergebnisse waren über all die Jahre und in verschiedenen Staaten ähnlich signifikant.

Ist damit bewiesen, dass Personen aus allen Bevölkerungsschichten unter bestimmten Bedingungen bereit dazu sind, auf Anordnung einer Autoritätsperson anderen Menschen Schmerzen zuzufügen? Wohnt die, um mit Hannah Arendt zu sprechen, „Banalität des Bösen“ in uns allen? Lässt sich diese „anthropologische Grundkonstante“ durch Erziehung nur mühselig überdecken, aber niemals aus der Welt schaffen?

Pogrome – meist gegen Juden, aber auch gegen Hexen oder Gruppen, die nur graduell von der herrschenden Glaubenslehre abweichen – ziehen sich durch die ganze Geschichte Europas. Und auf anderen Kontinenten berichten die Historiker über ähnliche Gewaltausbrüche. Die Verfolgung der Rohingya in Myanmar ist leider kein Einzelfall in der Neuzeit. Als Drahtzieher der Pogrome gegen die muslimischen Rohingya gilt Ashin Wirathu, Abt eines buddhistischen Klosters.

Ashin Wirathu ist ein erstaunlicher Mönch. Zum Abschluss eines Interviews, das dieser wenig friedliche Abt mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ führte, sagte er dem Journalisten: „Und wenn Sie wieder in Deutschland sind, grüßen Sie mir Pegida.“

„Grüßen Sie mir Pegida.“ In Dresden trägt der Unfriede diesen Namen. Die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes sind so etwas wie die moderne Variante der mittelalterlichen Bewegungen, die stets den Andersgläubigen, Andersdenkenden oder Anderslebenden für die eigenen Unbill verantwortlich machten. Auch dieser Charakterzug, einen Schuldigen fürs selbst erfahrene Leid, das mangelnde Glück oder versagte Anerkennung zu finden, scheint eine sich durch die Jahrhunderte ziehende Konstante des menschlichen Zusammenlebens zu sein.

Wo Massen im Hass gegen die Anderen geeint werden, loderten im Mittelalter die Feuer. Im Wohnbezirk der Juden, bei den Roma und Sinti. Und unter den vermeintlichen Hexen und Ketzern. Bei uns loderten die Heime für die Asylbewerber. Aus der Geschichte kennen wir die nächste Stufe der Eskalation. Es braucht dafür den starken Mann, der sich dieser Masse voranstellt, der sie lenkt und den Hass nutzbar macht für sein Programm.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich das Gesagte an einem Beispiel erläutern. Erinnern Sie sich an den jungen Mann, der bei den Pegida-Demonstrationen einen selbst gebastelten doppelten Galgen trug? An dem Balken des Galgens hingen Zettel: „Reserviert Siegmar das Pack Gabriel“ und „Reserviert Angela Mutti Merkel“. Als Arzt ist für mich sofort klar: Der Mann, der den Galgen gebaut hat, braucht dringend die Hilfe eines Facharztes.

In einem Kreis von gesunden Menschen hätte man zumindest den Mann auf seine Geschmacklosigkeit hingewiesen. Anders bei Pegida. Hier wird diese schon fast unglaubliche Entgleisung begrüßt, wenn nicht sogar gefeiert. Das Kollektiv applaudiert. Der individuelle pathogene Hass erreicht die Masse. Spätestens jetzt sind die Psychiater überfordert. Auf der Couch findet immer nur eine Person Platz. Und selbst für die Gruppentherapie ist Pegida zu groß.

Wir leben in Unfrieden. In Dresden, in Sachsen und auch global gibt es derzeit wenig Anzeichen für friedliche Zeiten. Und viele unserer Politiker in Verantwortung haben ihren Einfluss nicht oder nur unzureichend dafür genutzt, für den Frieden zu werben. Bei einigen erleben wir sogar das Gegenteil: Sie schütten Öl ins Feuer. Anstatt die vielen tausend freiwilligen Helferinnen und Helfer als Leuchtturm einer funktionierenden Zivilgesellschaft als Orientierung zu nutzen, arbeiten sich einige Politiker seit nunmehr Jahren an der Argumentationskette von Pegida ab.

Beschlossene Gesetze und Maßnahmen, die auf Ausgrenzung und Abschottung zielen, scheinen den Frustrierten entgegen zu kommen. Man wird sie aber so nicht befrieden können. Als Arzt würde ich sagen: Wer Frieden in der Gesellschaft schaffen will, muss zunächst eine anständige Diagnose des Unfriedens erstellen. Viele Politiker haben die Neigung, sich ausschließlich den Symptomen zuzuwenden und an ihnen herumzudoktern.

Hass und Gewalt erzeugen Hass und Gewalt. Das funktioniert in der Familie und im Staat nach den gleichen pathogenen Mustern. Die Bücher und Aufsätze über die Reproduktion von Gewalt und Unfrieden in Familien füllen ganze Bibliotheken. Das Thema ist soziologisch, psychologisch und medizinisch von allen Facetten beleuchtet worden.

Wenn sich aber der Unfrieden durch die beschriebenen Mechanismen reproduzieren kann, lässt sich dann nicht auch der Frieden reproduzieren? Wenn Aggressionen und vielleicht auch die Gewalt in uns Menschen angelegt sind, verfügen wir nicht auch über eine Anlage für die Ausprägung der Antagonisten? Mitgefühl, Empathie und Nächstenliebe – sind das nur temporäre Formen des menschlichen Ausdrucks?

Meine Diagnose, dass wir im Unfrieden leben, ist ebenso richtig wie grundsätzlich falsch. Es kommt ganz darauf an, was man zum Maßstab setzt. Die letzten 70 Jahre? Oder den 30-jährigen Krieg? Und wer ist dieses ominöse „Wir“? Wir in Sachsen? Wir in Dresden?

Heute sprechen wir selbstverständlich von Wir, wenn wir Europa meinen. Im Zeitalter, als unsere Ur-Großeltern lebten, hörte das politische Wir spätestens an den Grenzen des Deutschen Reiches auf. Den Erzfeind Frankreich einzuschließen in dieses Wir, das wäre der Masse der Menschen damals nicht in den Sinn gekommen. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges haben wir bei der Gestaltung des Friedens in Europa ungeheure Fortschritte gemacht.

Nach dem Fall der Mauer waren in diesem Wir ganz selbstverständlich auch die Polen und die Balten eingeschlossen. Unsere gemeinsame Werte, vielfältige Kooperationen in Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie die zahlreichen Begegnungen stärken das Wir, das gegenseitige Gefühl der Verbundenheit.

Wenn uns in Polen die derzeit Regierenden zuweilen das Wir-Gefühl erschweren, wächst doch unsere Verbundenheit, wenn wir Zehntausende auf den Straßen der polnischen Städte sehen, die sich für die Wahrung der Demokratie einsetzen. Obwohl wir niemanden von den Demonstranten kennen, entwickeln wir Sympathie, Mitgefühl und Empathie für diese Menschen. Sie sind Teil unseres Wir. Im Fernsehsessel geschieht offenbar etwas in unserem Kopf.

Prof. Tania Singer ist Direktorin der Abteilung für Soziale Neurowissenschaft am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Die Neurowissenschaftlerin und Psychologin hat in zahlreichen Tests im MRT gezeigt, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir Sympathie, Mitgefühl und Empathie empfinden.

Dass wir Menschen soziale Wesen sind, ist bekannt. Dass wir die Nähe zu anderen Menschen brauchen, ebenso. Die Empathieforschung hat gezeigt, dass sich Mitgefühl, Empathie und Nächstenliebe trainieren und kultivieren lassen.

Die gute Nachricht, die uns die Neurowissenschaft übermittelt, ist die: die Fähigkeit zu Mitgefühl und Empathie ist in jedem Menschen angelegt. Im MRT werden die Regionen des Gehirns sichtbar, in den diese Gefühle verarbeitet werden. Nur in besonders pathogenen Fällen, meist verursacht durch Gewalterfahrung in der frühen Kindheit, können diese Anlagen verschüttet werden. Gesunde Menschen hingegen können – ähnlich wie wir Sprachen lernen – Gefühle wie Mitgefühl, Empathie und Nächstenliebe pflegen und verfeinern. Die Neurowissenschaftler lehren uns, dass wir Menschen uns mit den Umständen verändern. Wer sich bewusst weiter entwickeln will, muss in Beziehungen denken und seine Beziehungsfähigkeit ausbauen.

Aus der Neurowissenschaft kommt die politische und gesellschaftliche Botschaft: Es gibt keinen Grund, sich mit der derzeitigen Entwicklung abzufinden, in der die Ausgrenzung von Menschen, Gewalt gegen Andersdenkende und die Betonung des Trennenden zum Programm erhoben wird. Gewalt und der bedingungslose Gehorsam sind dem Mensch nicht immanent. Wir verfügen über die Anlagen zur Aggression ebenso in uns wie die Fähigkeit zu Mitgefühl, Altruismus und Nächstenliebe.

Welche unserer Anlagen wir stärker entwickeln, hängt von den Umständen ab. Wollen wir gesund sein oder einen pathogenen Zustand kultivieren, denn Unfrieden macht uns krank. Was wir heute als Gesellschaft sind, ist nicht das Produkt von Kriegen oder gewalttätigen Auseinandersetzungen. Unsere Leistungen – egal ob in Kultur, Wissenschaft, Architektur, ja selbst im Fußball – konnten nur in einer friedlichen, zivilisierten Gesellschaft entstehen. Es gibt keine biologische Determination – weder eine zur Gewalt, noch eine zur Friedfertigkeit neigende Festlegung. „Wir sind biologische Wesen, die sich in einem kulturellen Raum verwirklichen.“ (Humberto Romesín Maturana.)

Wir lernen: Der friedliche Kampf um den Frieden lohnt. Gesellschaftliche Einmischung – besonders in Gemeinschaft Gleichgesinnter – stärkt unsere Resilienz und die der Demokratie.

Prof. Dr. med. Gerhard Ehninger